Mittwoch, 21. Dezember 2011

Vor dem Aufbruch

Sie erhielten das Feuer noch eine Weile um sich daran zu wärmen, während sie das Kaninchen mit Knäckebrot und Kaffee aßen. Als das Kaninchen gar war, sah es nicht mehr so groß aus, es war regelrecht zusammengetrocknet. Das Fleisch war zwar zart, und Björn hatte es auch nicht mit dem Salz übertrieben, es war genau richtig. Dennoch schmeckte und sah man, dass es den Bewohnern der Gegend schwer fiel hier zu entfalten, sie schienen zumindest nicht an einem Leben in Überfluss zu leiden.

Björn tröstete sich mit dem Gedanken, dass das Tier wohl ohnehin nicht über den Winter gekommen wäre, so mager, wie es war. Dieser Gedanke bereitete ihm Erleichterung darüber, dass sie um selbst besser durch zu kommen darauf angewiesen waren Chancen zu nutzen und so Leben zu nehmen.

Als sie beide satt waren, machte er sich daran die Knochen auszulösen und das übrige Fleisch in eine Plastiktüre zu tun, damit sie später, vielleicht erst am Abend, eine dünne Suppe damit aufwerten konnten. Der Pelz war am Feuerrand gut abgetrocknet und er rollte ihn ein und tat ihn zu der Falle in die Umhängetasche, wo Jäger und Beute nun einige Zeit zusammen reisen würden, bis sie auf Nomaden oder eine Karawane treffen und versuchen würden, das Fell gegen Nahrung, oder was ihnen sonst brauchbares dafür geboten werden würde, einzutauschen. Für den Pelz des Fuchses hatten sie genug Brot und Trockenfleisch für zwei Wochen bekommen und dazu noch ein Beutelchen Tabak, von dem Thorsten noch immer manchmal abends seine Pfeife stopfte. Für das Fell eines Kaninchens, noch dazu eines so kleinen, konnten sie freilich keine so große Ausbeute erwarten. In der Einöde zählte aber selbst ein kleiner Pelz noch immer mehr, als die vergilbten Scheine, die sie in irgendeiner Ecke in einem der Rucksäcke aufbewahrten.

Thorsten baute in der Zwischenzeit das Zelt ab. Sie waren mittlerweile auf ihre Aufgaben eingestimmt und vergeudeten kaum noch Zeit. Die Routine der sich jeden Tag wiederholenden Tätigkeiten hatte sie flink gemacht. Nachdem er die Schlafsäcke, die zum Trocknen im Gras gelegen hatten zusammengerollt und in ihre Säcke gestopft hatte, zog er die Heringe, falte das Oberzelt zusammen, räumte die restlichen Sachen aus dem Zelt, zog die Zeltstangen und faltete schließlich auch das Unterzelt. Jeder von ihnen trug eines der beiden. Kurz darauf war alles wieder in den beiden Rucksäcken verstaut, sodass beide etwa gleich viel wogen. Einer trug, die Heringe und die Umhängetasche, der andere den Wasserkanister und keiner weniger als der andere.

Als alles erledigt war, setzte sich Thorsten noch einmal zu Björn ans Feuer, der gerade die Tassen erst mit Gras auswischte und sie dann mit Asche und Erde aus dem Feuer abtrocknete, in jede hinein pustete um nicht unnötigen Staub mitzunehmen. „Wir müssen zusehen, dass wir heute an einem See oder einem Bach vorbeikommen.“, sagte er zu Björn, der gerade letzte Bröckchen aus einer der Tassen fingerte.

„Besser keinen See, das bedeutet nur Umweg.“

„Ich würde gerne mal wieder Fisch essen.“, sagte Thorsten, der sich daran erinnerte, wie sie einmal, vor knapp drei Wochen an einem Back im flachen Wasser Forellen hatten fangen können. Sie hatten Äste an der flachsten Stelle versenkt und sie dann, als die Forellen sich daran gewöhnt hatten, dass da Äste in ihrem Wasser lagen, mit einem Ruck herausgezogen und so die Fische, die dumm genug waren auf die Posse hereinzufallen, ans Ufer geschleudert. Allerdings waren es nur zwei gewesen, die sich so etwas vormachen hatten lassen. Es war dennoch genug für sie beide gewesen und die einfache Formel: Häuten, auch wenn es hier Schuppen gewesen war, Salzen und Garen, hatte ihre Erwartungen erfüllt.

„Meinst du wirklich, dass das noch mal klappt? Ich habe seit drei Tagen keinen Baum gesehen, der dafür taugen würde und meine Angelausrüstung habe ich leider auch nicht dabei.“ Björn lachte über seinen eigenen Scherz, aber Thorsten schien noch bei den Forellen von früher zu sein. „Gib mir mal die Karte, sagte er und als er auf Thorstens grauen Rucksack zeigte, erwachte dieser aus seiner Erinnerung.

Sie hatten eine recht detaillierte Karte von diesem Gebiet. Das war aber nicht immer so. Sie mussten sich auf die Karten verlassen, die sie in den Siedlungen, die sie passierten kaufen konnten. Wenn sie eine Karte durchlaufen hatten, wartete am östlichen Ende irgendwo eine größere Siedlung, wo sie Vorräte kaufen konnten, eine Nacht in einem richtigen Bett schlafen und sich und ihre Wäsche mit manchmal sogar warmen Wasser waschen konnten. Sie schrieben dann Briefe nach hause, Björn an seinen Vater, Thorsten an seine Eltern und seine Freundin, die sicherlich mit jedem Brief hoffte, er würde die Dummheit dieser Unternehmung endlich einsehen und schreiben, dass er nach hause käme. Stattdessen schrieben sie aber meist nur, das alles in Ordnung sei, sie gesund waren, manchmal mussten sie dann die Wahrheit etwas dehnen, und wo sie gerade waren, was sie gesehen und erlebt hatten. Oft waren das Berichte von kleinen Unfällen, die immer kleiner wurden, je länger sie davon schrieben, seltsamen Begegnungen und sehr selten von kleinen Erfolgen beim Fangen von Tieren.

Manchmal, wenn sie etwas gesehen hatten, was ihnen groß und unbekannt gewesen war, schrieben sie auch das, gaben sich die größte Mühe das Erlebte in Worte zu fassen, fanden das Geschriebene dann aber meist doch zu nicht ausreichend um den Moment wirklich zu fassen. Wie sollte man auch ausdrücken, wie es sich anfühlt, wenn man zum ersten Mal auf die weißen Rücken jener Titanen blickte, wenn sie das erste mal schlafend am Horizont zu erahnen waren und ihnen so verrieten, dass sie dem Himalaya zum ersten Mal nahe gekommen waren? Oder der Moment als sie auf einmal vor einem Owoo gestanden hatten, wovon sie zuvor nur gehört oder gelesen hatten? Die Plastikfähnchen, die hektisch im Wind flatterten und das leise Knirschen der Kiesel, die sich unsichtbar zu rühren schienen? Sie hatten in ihrem Erstaunen vergessen, wie oft und in welcher Richtung sie den Owoo umrunden mussten und hatten ihm zu Füßen übernachtet. Am nächsten Tag beobachteten sie dann eine kleine Yak Karawane bei ihrer Umrundung und warteten verlegen bis sie sich entfernt hatte, bis sie es ihnen nachmachten und dann hastig zu ihnen aufschlossen um zu handeln.

Es war unmöglich das in Worte zu fassen, aber sie fanden, dass das, was sie trotzdem zustande brachten, genügen werden müsse. Waren die Briefe geschrieben, schickten sie sie zusammen mit den Fotodosen und der verbrauchten Karte nach hause. Sie konnten sich zwar erst sicher sein. das alles ankommen würde, wenn sie wieder zuhause ankommen würden, aber für den Moment würde auch das genügen müssen.

Samstag, 17. Dezember 2011

Steppenmorgen

Als die Sonne über die Berge im Osten kletterte, eine Zinne nach der anderen erklomm, füllte sich die Steppe langsam mit ihrem roten Licht, dem das fahle Blau des Morgengrauens wich. Vereinzelte Dunstwolken waren noch am Himmel, aber die Sonnenstrahlen, deren Wärme alles durchdrang, begannen bereits eifrig damit, sie aufzulösen. Es verschwanden auch die kristallenen Eisblumen, die sich auf den dörren, grauen Steppengräsern gebildet hatten und ihnen eine Spur von Schönheit verliehen, die sie erst Monate später im Frühjahr wirklich zeigen würden, wenn die vielen verschiedenen blühenden Gräser die Ebene für ein paar Wochen in eine blühende, duftende Landschaft verwandeln würden. Jetzt jedoch waren die Blüten aus Eis der einzige Hinweis auf die schlafende Schönheit der in der Erde ruhenden Samen, dieses andere Gesicht der öden Ebene. Es dauerte nicht lange und der weiße Schimmer war völlig von den langen, dörren Halmen verschwunden und das rote Licht wich abermals dem grellen Weiss des Tageslichts, die Ebene war wieder grau und braun.

Auch in dem Zelt, das mit seinen orangenen Planen weithin sichtbar die Ordnung, die hier herrschte unterbrach, regte sich langsam etwas und nach einer kurzen Weile, war das leise Geräusch eines Reißverschlusses zu hören. Ein junger Mann, 27 Jahre alt, kroch aus dem Zelt und zog sich die Schuhe, die er zum Schutz vor jenen Wesen, die die Geborgenheit dunkler, feuchter Plätze suchen, über eine Zeltstange gehangen hatte an, ansonsten trug er nur ein T-Shirt und Unterhose.

Björn wachte normalerweise als Erster auf. Er nutzte diese Zeit auch heute, wie schon die Wochen zuvor dazu, sich die Zähne zu putzen und sich zu waschen, je nachdem welche Art Wäsche die Kapazitäten des Wasserkanisters zuließen.Normalerweise bedeutete das, den Waschlappen nass zu machen und sich unter den Armen und zwischen den Beinen gründlich abzureiben. Rasiert hatte er sich nicht mehr, seit er einige Wochen zuvor an einem Hang gestolpert und herab gerutscht war. Der Spiegel war aus dem Rucksack gefallen und zerbrochen, in die Scheide des Rasiermessers war Sand geraten. Hatte man einmal Sand in der Scheide, war es ohne die nötige Expertise und das entsprechende Werkzeug unmöglich, allen Sand herauszubekommen, geschweige denn, das vom Sand stumpfe Messer wieder scharf.

Glücklicherweise war das der einzige Schaden gewesen, der ihnen bei dieser Episode widerfahren war. Ein paar Schrammen und der Schrecken in den Knochen, mehr nicht.

Da sein Bartwuchs aber ohnehin eher spärlich war, das Kinn weiß, darunter schwarz und die Koteletten in ihrer Form wie die Grasfetzen der Steppe die sie durchquerten. Da sie aber allein waren, nahm niemand Anstoß an ihrem verwilderten Aussehen.

Nachdem die kurze Toilette erledigt war, sammelte er Hölzer und Gras, was er eben finden konnte, und machte ein kleines Feuer, das ausreichen würde um zwei Tassen Kaffee zu kochen. Zwei Tassen Kaffee, etwas Knäckebrot, etwas von dem Käse, der noch übrig war und Beef Jerky waren das Frühstück, das sie jeden Morgen zu sich nahmen, seit sie die Grenze überschritten hatten. Manchmal stellte Björn noch abends eine Falle auf, aber nur selten fielen die Tiere auf die Falle herein. sie kannten Menschen nicht und gaben sich nur selten ihrer Neugier hin um die Menschen vorsichtig zu untersuchen. Noch seltener wagten sie es den Köder zu befühlen, der festhalten und töten sollte.

Nachdem er das Feuer entzündet hatte und die Tassen hineingestellt hatte, ging er los um die Falle einzusammeln, vielleicht würden sie in der nächsten Nacht mehr Glück haben. Zu seiner Überraschung war aber ein Kaninchen auf den Trick hereingefallen, offenbar war der Geruch von Knäckebrot dieses Mal genug gewesen um die Neugier siegen zu lassen. Er war dankbar dafür, dass der stählerne Bogen mit den scharfen Zähnen ihm die Aufgabe abnahm, den Opfern in der Falle das Genick zu brechen und sie zu töten.

Einmal war ihnen ein Fuchs in die Falle gegangen und war nicht durch das Schnappen der Zähne verendet. Sein Genick war gebrochen gewesen, aber er hing noch immer an seinem leben und knurrte bedrohlich, als Björn sich näherte. Es war seltsam gewesen, wie der graurote Fuchs da gelegen hatte und ihn wütend anknurrte, wie jeder Fuchs, der von seinem Jäger in die Ecke gedrängt wird und sich für Angriff oder Verteidigung bereit macht. Aber er konnte nicht mehr angreifen und da lag die Eigenart des Augenblicks. Alles, was er konnte, war zu versuchen Björn einzuschüchtern. Ein Moment des Angriffs, ohne die geringste Möglichkeit es zu tun. Er hatte Thorsten geweckt, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Nachdem sie eine Weile über dem verängstigt schnaufendem Tier gestanden hatten, war Thorsten ein Stück weg in die Steppe hinein gegangen und kurz darauf mit einem Stein, etwa so groß wie ein Laib Brot wiedergekommen. Er hatte ihn dann über seinen Kopf gehoben und den Schädel des Fuchses zerschmettert.

Er befreite das Kaninchen nun aus der Falle, säuberte die Falle mit Gras und verstaute sie wieder in seiner Umhängetasche. Zurück am Feuer, machte er sich daran, das Kaninchen zu häuten. Auch wenn sie selten tatsächlich etwas fingen, hatte er doch mittlerweile Übung darin, wie es anzustellen war und es dauerte nicht lange, bis das Tier ganz nackt war. Er öffnete den Bauchraum und entnahm vorsichtig die Organe um sie nicht zu verletzen und so das Fleisch zu verderben. Auch die Augen schnitt er dem Kaninchen aus, er mochte den vorwurfsvollen Blick in den Augen ihrer Opfer nicht. Schließlich wusch er das Tier mit so wenig Wasser wie möglich, salzte es von innen und aussen, spießte es auf einem überschüssigen Hering auf und hing es über das Feuer.

Das Wasser in den Tassen kochte bereits und er gab aus einer kleinen Dose, die fast leer war, Kaffeepulver hinzu. Nachdem er nochmals Gestrüpp und Gras gesammelt hatte um das Feuer lang genug zu erhalten, bis das Kaninchen gar sein würde, füllte sich die Luft mit dem Geruch von Kaffee und garendem Fleisch. Es roch ein wenig wie zuhause, nach der Küche seines Vaters.

Das Geräusch vom Reißverschluss wiederholte sich und aus verquollenen Augen blickte ein verschlafener Thorsten auf das Feuer. „Sieht nach einem guten Morgen aus!“

„Ja, guten Morgen.“

Montag, 31. Mai 2010

(K)einer räumt auf

Die S-Bahntüren gehen auf und er steigt aus. Deutsch hört sich wieder normal an, die neue Wohnung ist gestrichen und eingeräumt. „Einsteigen bitte... Zuuuurückbleiben bitte.“ Das Signal ertönt, aber er ist schon auf der Brücke zum Ausgang Georgenstraße. Auf dem Weg seine Koordinatorin zu treffen um alles zu richten. Das Praktikum ist vorbei, die Credits verdient, das muss jetzt alles in die richtigen Formulare eingetragen werden. Die schwere Tür am Haupteingang öffnet automatisch, das ist neu und auch das Foyer sieht anders aus. Die Wände neu gestrichen, das Marmor auf Hochglanz poliert, das macht schon Eindruck. Die Treppen hoch und die Gesichter der Nobels schauen wieder auf ihn herab. Daran hat sich nichts geändert, nur die Rahmen sind jetzt golden und nicht mehr weiss. In den Seitenfluren hat sich aber nichts verändert, es riecht immernoch nach DDR-Muff und alten Büchern, von der Decke bröckelt die Farbe, wenn man nicht aupasst bekommt man ab und zu eine Flocke ab und das ist schlimmer als Kreidestaub. Vor der Tür stehen zwei Leute, die warten eingelassen zu werden, er hat einen Termin, aber das interessiert hier niemanden. Auf den Ohren Lexy and K-Paul, setzt er sich auf die Treppe und wartet. Wenigstens fragen die Kommilitonen (lange nicht benutzt das Wort) ob man darauf wartet Frau Olbert zu sehen. Dann nach gefühlten zwei Stunden öffnet sich die Tür (Jean Jaque Smoothie auf dem Ipod) und Frau Olbert bittet ihn herein.

„Der verlorene Sohn kehrt heim, wie?“

„Ja, kann man so sagen.“

„Ihr Superviser hat erzählt, sie haben da in ihren letzten Tagen einen ziemlichen Aufruhr veranstaltet. Ist es denn wirklich so schlimm hier?“

„Nein, das nicht, aber dort war es halt doch besser. Persönlicher.“

„Ach so, das kann ich verstehen. An ihrer Stelle hätte ich warscheinlich genauso gehandelt. Aber sie wissen ja wie das damals war zu DDR Zeiten. War ja schon ein Unding, wenn man Amerikanistik studiert hat. Sie sollten froh sein, dass sie überhaupt rüber durften.“

Frau Olbert fängt immer mit DDR Geschichten an, egal worum es geht.

„Was haben sie denn heute für mich?“

„Ich hab meinen Abschlussbericht vom College dabei, mein Transcript und die Hausarbeiten, soweit sie korrigiert verfügbar waren.“

„Sehr gut, zeigen sie mal.“

Eine halbe Stunde später ist alles besprochen. Er ist wieder Student der Humboldt Universität. „Die Credits werden dann übertragen, machen sie sich keine Sorgen, das bekommen wir schon hin. Aber hier können sie sich solche Spirenzchen wie in Grinnell nicht erlauben.“

„Würde ja sicherlich auch nicht den selben Effekt haben.“

„Ach, sagen sie das nicht, Andreas. Wir sind immer noch im Osten“

„Ja...“

„Also, dann vergessen sie mal nicht sich für ihre Kurse anzumelden und kommen sie in zwei Wochen nochmal, damit wir über den Praktikumsbericht reden können.“

„Gut, mach ich.“

Dann schließt er die Tür hinter sich. Auf dem Flur setzt er die Kopfhörer (Marke Elecom) wieder auf, die alte Routine ist wieder da. Nichts hören und nichts sagen. Das Sehen lässt sich beim Laufen meist nicht vermeiden. Wieder den Gang hinunter und in die Mensa. Die Mensa haben sie auch renoviert, als er im Dezember da war stand noch ein Ersatzbau auf dem Rasen mitten auf dem Hinterhof, wo jetzt nur kahle Erde ist. Die Mensacard funktioniert noch und es reicht sogar für eine Schüssel Milchreis. Die Aufmachung ist neu, aber der Inhalt ist immernoch der selbe Dreck. An den Tischen sitzen sie, die Berliner Neohippies, die sich für das erkorene Geschlecht halten, am Ende aber doch irgendwo in Büros oder Schlimmerem enden werden. An einem Tisch am Ende sitzt Kemp, wenigstens der ist geblieben. Er winkt ihm zu und dann wird der Fraß konsumiert, wie Kemp das ausdrückt.

„Hast mir ja gar nich bescheid gesagt, dass du wieder da bist.“

„Sorry, hatte ne Menge Scheiß zu erledigen.“

„Haste schon ne Bude?“

„Nee, keine Kohle. Muss jetz bei meiner Mutter wohnen.“

„Ach du Scheiße. Und das geht?“

„Muss ja.“

„Uh huh. Und bleibst du jetz oder wie?“

„Muss ja. Hat am Ende ja alles nichts geholfen.“

„Nee, hab schon gehört, auf Facebook und so. Was haben sie dir denn gesagt?“

„Gar nichts haben sie gesagt, die Ficker. Der Präsident hat mich 5 Tage vor Abflug in sein Büro bestellt und mir groß Hoffnungen gemacht, dass ich als erster nachrücke, dass ich ganz oben in der Liste stehe, weil ich ja n toller Hengst bin, gute Noten, engagiert und so, aber nix.“

„Und das Ding mit den Unterschriften?“

„Waste of Time Digger. Den halben Campus hab ich mobilisiert, die Nächte nur drei Stunden geschlafen um neue Dinger zu organisieren, 800 Unterschriften alleine von Studenten und dann noch mal 100 von Profs und die Wichser im Admissions Office nehmen mir die Unterschriften ab und sagen: ‚We’ll look into it.’ N Scheiss haben die gemacht.“

„Despoten, mehr nicht.“

„Hab ich auch gesagt. Was is das für n Scheißladen, wenn die die Meinung eines Großteils der Studenten und so weiter einfach ignorieren?“

„Despotenscheißladen.“

„Jau. Haste Bock einen trinken zu gehn?“

„Schon. Haste Geld?“

„Seh ich so aus?“

„Nö. Also nich saufen?“

„Doch doch. Lass ma zur Alkopole gehn. Der Schriftsteller der da war hat für die irgendwas geschrieben und dafür so ne Bierkarte bekommen mit der er unbegrenzt bei denen saufen kann. Er is nich so oft in Berlin hat er gesagt und sie mir gegeben.“

„Geile Sache. Los gehts. Vollen Magen haben wir ja.“

„Eben. Sieht die Kotze nachher lustig aus. Bei dir Fleischbrei, bei mir Milchreis mit Biersauce und Kirschstücken.“

Sie lachen laut, damit es das allgemeine Gelaber in der Mensa übertönt und gehen. Die Teller lassen sie stehen. Die Alkopole in der Friedrichstaße gibt es noch, in der hintersten Ecke und immernoch die seltsamsten Gestalten darin, aber rauchen darf man hier entgültig nicht mehr. Bei den Zigarettenpreisen auch nicht rentabel. Und die Zigaretten, sie seine Mutter ihm gestopft hat, würde auch nur noch ein verzweifelter Fremdenlegionär rauchen.

„Zwei Bier für die Männer von der Irrenanstalt!“, grölt er als sie sich an ein kleines Tischchen setzen.

„Kommt sofort Bürschchen.“

„So und was is jetz mit der Polin?“, fragt Kemp.

„Welcher?“

„Wie welcher? Hast du ne ganze Batterie oder was?“

„Sozusagen. Von der hier hab ich noch nix wieder gehört und die von drüben.. Naja, was soll da sein, die seh ich nich wieder. Ich fahr doch nich nach Warschau um da den Pakt zu erfüllen.“

„Und warum kommt sie nich?“

„Auch keine Kohle. Die is froh, dass das College ihr alles bezahlt. Is doch mal so“, das Bier kommt an, sie stoßen an und nehmen tiefe Hübe, „Für alles is Geld da, nur für nen armen Schlucker aus dem reichen Deutschland nich. Raffen die doch nich, dass das reichste Land der EU Leute hat, die nich wissen was sie morgen fressen sollen.“

„Na wenigstens haste immer Bier zu saufen. Die Leber bedankt sich.“

„Jau. Und bei dir? Was is mit Carole?“

„Nix is mit der. Ich brings nich fertig ihr das ins Gesicht zu sagen und sie raffts auch nicht. Mittlerweile hat sie auch n Typen, da nehm ich mein Eisen eh aus dem Feuer.“

„Richtig so. Bringt nur Ärger.“

Zwei Stunden später, es geht ans Bezahlen.

„Macht dann fünfundzwanzig dreiundsiebzig Meister.“

Er kramt in seinem Portemonnaie und endlich kommt die Karte zum Vorschein. Er gibt sie dem Wirt.

„Was das denn?“ fragt er.

„Na die Flatrate Karte von eurem Verein.“ stammelt er.

„Noch nie gesehn. Akzeptier ich nich.“

„Wie, akzeptier ich nich? Willst du mich verarschen?“

„Bleib ruhig Mann.“ flüstert ihm Kemp ins Ohr.

„Scheiß auf ruhig bleiben! Ich bin schon viel zu lange ruhig geblieben. Ich hab die Schnauze langsam voll vom verarscht werden. Das is ne Scheiß Flatrate Karte Mann, die ich bekommen hab weil ich nen Scheiß Artikel für ne Scheiß Anthologie für euern Laden geschrieben habe und ihr mich nich bezahlen konntet. Also zieh das Ding durch deine Maschine wie ne Kreditkarte und gut is!“

Zack, ein reißender Schmerz in der Wange und die Umgebung erhebt sich. Dumpfer Aufprall auf dem Hinterkopf, blutiger Geschmack im vorderen Rachenraum. Einen Moment liegt er regungslos da, bleibt liegen. Er hört die Kasse klimpern.

„Nimm den Kassenbon.“, sagt er zu Kemp.

Dann bewegt sich die Umgebung wieder kurz. Einen Moment lang bewegt sich gar nichts mehr und er sieht Paulas Brille auf dem Schreibtisch im German House neben ihren Pillen liegen. „Are you okay?“ fragt sie ihn. Er dreht sich um und sie liegt im Bett und liest. Wie macht sie das ohne Brille, fragt er sich. „Yeah sure, everything is fine. Why?“ , „Well you just bumped your head on the desk.“ , „Did I?” , „Yes, you did. Maybe that’s why no one understands you Germans, it’s because you bumped your heads on your desks one time too often.”

„Don’t be ridiculous.“

„Was meinst du ‚Don’t be ridiculous?’ Alter du hast da drin grad ne ziemliche Szene abgezogen!“

Er öffnet die Augen und erkennt die Umgebung. Rossmann gegenüber, daneben über einem Schuhladen das Finnland Institut, allerdings nicht von der Humboldt.

„Ich hab einfach die Schnauze voll. Hast du den Kassenbon?“

„Ja, wieso?“

„Und die Karte?“

„Ja, hat er hinterhergeworfen. Wieso?“

„Weil ich da anrufe und frage, was die Scheiße soll. Danke, dass du bezahlt hast.“

„Logisch. Komm wir gehn nach hause.“

„Und wo soll das bitteschön sein?“ Er ist wieder auf den Füßen, die Trunkenheit lockert Zunge und Gefühle.

„Heut Nacht bei mir.“

Er kotzt auf den Bordstein. „Siehst du? Milchreis mit Biersauce.“ Und lacht.

„Jaja, der Fleischbrei bleibt aber drinnen.“

„Sagst du jetzt!“

Der nächste morgen beginnt mit Kopfschmerzen und Harndrang auf einer Couch in Neukölln. An der Wand über der Couch ein Bild aus Anatolien mit nostalgischem Motiv und dem Hochzeitsbild von Kemps Bruder und dessen Frau. Es ist schon hell, aber die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Im Zimmer sind mindestens 30 Grad, es wird ein heisser Tag.

Auf dem Balkon eine von Mutters gestopften Zigaretten. Am Ende ist er ja doch nur Fremdenlegionär. Und ein schlechter noch dazu. Das Maul müsste man mal aufreissen wenns drauf ankommt und nicht nur immer fein nicken. Fressen polieren und nicht nur shake hands. Aus Fehlern lernt man.

Aber erst wenns zu spät ist.

Samstag, 8. Mai 2010

Waking in the Tube

The morning shook my dream away
and waking seems so hard today.
I'm moving out of my warmened seat,
freshening my restless, tired eyes.
I'll see the day and what I'll get,
my thoughts are running yet, like mice.
I'm counting them and watch their way
into my deepest feeling's clay.

The train is running towards the dawn
and it's people's faces seem to mawn.
Doors do open, doors do shut,
the mawning come in and soon they leave.
Wondering which connection I may cut,
the scream of hunger by a crow.
Beyond the scratched windows glows some lawn,
the window's writing seems to warn.

'Don't scratch my glasses please!', it says
to me, who stands up and readies to go his ways.
The door does open and I step out
into the crowded station's blackened snow.
There is a man, can't hear him shout,
can't hear the screaming hungry crow.
Yet already I'm counting down my days
and if I'll die, so it be the case.

Ursprüngliche Veröffentlichung: 24.4.2009

Samstag, 24. April 2010

The Rabbit Catcher


hard - stopping sounds
-Effected Places one has once been close to.

While serpents colonize the sky.
Down on earth the ladies cry
And winter bottoms people's hearts
Down to the core of sanity.

Whereas everyone agrees to find
Lilies on the fields of humble
Stumbling line by line through
A day of hard nonwork.

"Copy them!", the serpents shout
And heard no one claiming
The land, where birds used to be
Native inhabitants, now escaping.

The scene crouching into the water,
Where it all began, what they couldn't
Remember. Breathing wet air in
The cold light of the absent day.

She'll do something crazy, thought he
Who holds the crow's feather in his hands,
Scribbled it down on pergamento.
If only he could have seen this.

He would have stopped the polishment
And grabbed his controllable volcano.
Would have burned, the crow is sure,
The fur in its hole and

Serpents copied what they shout,
Heard on squares all over Thuringia
And bells rang, horrible tremolo
Like a requiem for furs.

Ursprüngliche Veröffentlichung: 2.2.2009

Donnerstag, 22. April 2010

Seminar Projektor

Hin und wieder drängen sich Ihm Bilder auf.
Gerade eben, als Er gedankenverloren aus dem Fenster blickte und kurz darauf Sein Blick auf eine Seminarteilnehmerin, ein großes, hageres Mädchen fiel, passierte es wieder.
Auf einmal sah Er Sie vor sich, nur in vagen Umrissen. Und für einen Moment ließ Er sich darauf ein und blickte Ihr ins Gesicht, das besonders durch Ihren leichten Überbiss auffiel. Dieser Eindruck verstärkte sich noch durch Ihre Haare, oder besser noch durch den Haarschnitt. An den Haaren an sich war nichts auszusetzen, rotbraun und offenbar kräftig, aber die verwachsene Bubikopf-Frisur und die von allen Seiten mehr oder weniger ins Gesicht gekämmten Haare kehrte diesen leichten Makel Ihres Unterkiefers heraus.
Der lange Hals, auf dem sich die Nerven (oder waren es Sehnen, Muskeln, Venen und Arterien?) abzeichneten, sobald Sie sch reckte oder die Haare zurückzuwerfen versuchte, saß auf herausragenden Schlüsselbeinen. Alles unterstrich Ihre geradezu magere Erscheinung.
Eigentlich war das alles, was man an nackter Haut sehen konnte, aber Ihr dicker Pullover vermochte ihre Brüste nicht zu verbergen.
Sie waren es, die wie ein Blitzschlag ein Bild in Sein Unterbewusstsein projizierten. Das Vorstellungsvermögen arbeitete von sich aus und versuchte anhand dessen, was ihm objektiv zur Verfügung stand ein Bild zu entwerfen.
Ihr Busen stand wirklich in keiner Relation zum Rest ihres Körpers, ausser vielleicht Ihrer Größe, Sie war knapp eineinhalb Köpfe größer als Er. Deswegen machte es für Sein Vorstellungsvermögen wahrscheinlich auch Sinn, dass Ihr Busen größer geraten müsse. Aber eben doch nur, wenn er in Einklang mit dem Rest gesetzt werden würde. Hier versagte der Projektor also offenbar. Sie war hager, sehr schmal und Ihr Busen stach in Profil und Vorderansicht heraus. Im Profil nach vorn und in der Vorderansicht nach beiden Seiten über die Rippen.
Ihr langer Hals führte zur (höchstwahrscheinlich wahrheitsfernen) Vorstellung eines Hängebusens. Für die unkontrollierbare Kompositionsmaschine in Seinem Kopf machte dies Sinn, ebenso wie der Schluss, dass die Sommersprossen aus Ihrem Gesicht wohl auch Ihren Busen und Rest Ihres Körpers bedecken müssten.
Ein wenig tiefer erhob sich ein kleiner, aber doch merklicher Bauch mit einem seltsam passenden Bauchnabel in der Mitte. Der Po, der sich nach nach einer halben Drehung zeigte ließ jedoch keinen Grund für Kritik. Eine weitere halbe Drehung eröffnete Ihm den Blick auf Ihr kurzgehaltenes und anliegendes, glattes Schamhaar, das nicht kraus, gelockt oder buschig war und dann Ihre langen, glänzenden Beine mit den Andeutungen der Wadenmuskeln.
Er fühlte eine seltsame Anziehung von Ihr ausgehen und Ihn in ihren Bann ziehen. Mit einem mal, war Sie nicht mehr so unattraktiv wie noch kurz zuvor. Der Busen war immer noch sehr groß, hing aber nicht mehr, sondern war prall und symmetrisch und mit kleinen Brustwarzen besetzt, die Ihre Brüste wie Rubine krönten. Der Überbiss störte Ihn zwar immer noch, ebenso wie die Sommersprossen und die Streifen am Hals, reduzierten sich aber, je weiter das Bild sich entwickelte, auf ein erträgliches Maß und wurden für Seine Betrachtung immer unwichtiger.
Der Kopfprojektor gab sich aber noch nicht zufrieden, er sponn weiter.
Leises und lauteres Stöhnen im Ohr, das Gefühl von Haaren zwischen den Fingern, rissige Lippen und eine weiche Zunge. Brustwarzen auf der Haut, Wärme und Feuchte an Bauch und Rücken. Rhythmisches Auf und Ab. Hin und wieder leises Schnalzen. Anschwellende und abflauende Spannung, ein beherzter Griff zum Po um die Schenkel noch näher an sich zu pressen. Feuchtigkeit, die an Lenden und Oberschenkel haftet.
Ein langes, lautes Stöhnen.
Ein plötzliches Aufbäumen.
Mit einem scharfen weißen Blitz und einem Schrecken, wie nach einem Schreckschuss stoppt der Projektor und das Licht geht wieder an. Er sitzt wieder im Seminarsaal und der Blick auf die Uhr verrät, dass zwölf Minuten vergangen sind.
Schräg vor Ihm sitzt Sie und ahnt nicht einmal, was Ihr in der Vorstellung eines einzelnen Seminarteilnehmers eben widerfahren ist, blickt unschuldig zur Tafel.
Doch Einer hat kalten Schweiß auf der Stirn und traut sich nicht, Sie noch einmal anzusehen.

Montag, 19. April 2010

Weißes Treiben

Schmelzen will er, schafft es auch
Der Marmor macht da keinen Unterschied
Ob sie dort liegen oder nicht ist für ihn unerheblich
Die Fläche bleibt am Ende weiss.

Doch warum fallen sie, wenn sie nicht bleiben können?
Sie haben keine Wahl, denn grauweiße Mütter
Gebären sie, speien sie in freien, gedämpften Fall hinaus
Sie können nicht fliehn, sich nicht befrein.

Der Vater, jener hochgedrückte Unsichtbare
Schwängerte sein grauweißes Weib und pflanzte
Seine Saat in ihren permeablen Leib
In dem sie wuchsen bis zum Fall.

Eh sie erwachen durch die tiefdrückende Hebamme
Finden sie sich schon auf ihrem Weg
Den sie zu gehen haben, per Amendement
Wissen nicht wieso, noch wohin.

Und auch wenn der weiße Marmor sie verschmäht
So muss er, geschlagen von der Amme
Zuletzt doch die Kinder unbekannten Weibes empfangen
Kann sie nicht alle schmelzen, wie er will.

Denn noch im Tod, durch die Hilfe ihrer Amme
Verbünden und verbrüdern sich die
Weißen Zackenkinder nun ohne Form
Und werden fest und glatt und kalt.

Und bieten so ihren Brüdern und Schwestern
Bettstatt und Wiege und Lebensraum
Und dankbar sammeln sich sich auf ihren
Unkenntlichen Schwestern und betten sich zur Ruh.

Sie bleichen so, was ohnehin schon weiss
Gewesen ist, der weisse Stiefvater erhält einen
Kalten weißen Pelz, der ihn nicht wärmt und
Dennoch nicht erfrieren lässt, weil er nicht lebt.

So kann er nicht erfrieren sondern ruhig liegen
Schicht über Schicht, Kind über Kind sammelt sich so
Sie reichen sich die spitzen scharfen Hände
Sind Heerscharen ohne Kampfgewalt.

Sie liegen dort für lange Zeit, sie leben kaum
Werden getreten, enger zusammengedrückt, geworfen
In Ecken gekehrt um dort zu warten
Und wissen nicht auf was.

Und schließlich kommen Vater und Mutter
Und ihre zweifelhafte Liebe senkt sich hernieder
Ihre Kinder fühlen Wärme kaum gekannt
Und die unten erinnern sich, die kennen das.

Doch es kommt anders, auch oben verbrüdern sich welche
Von Schicht zu Schicht beginnt das Sterben, senkt sich
Zum Grund herab, wo der weiße stiefväterliche Marmor
Des Himmels Weißgrau scheinen sieht.

Und schließlich, sie sind alle tot
Die auf dem Marmor, in den Ecken
Holen Vater und Mutter zurück
In ihren Schoß, an ihre Brust.

Ach nie hatten sie Gewalt
Sie kannten weder Weg noch Ziel
Sie trieben, wurden getrieben
Von Mutter, Vater, Amme und den namenlosen Anderen.

Es geht den Kindern weißgrauer Mütter
Nicht besser als die Kindern derer, die kehren
Wie die einen kehren, sind die anderen Gekehrte
Übernehmen ihre Rollen, die Andere bestimmen.

Ursprüngliche Veröffentlichung: 3.12.2008