Jakob kam ohne Puls und Herzschlag auf die Welt. Er erstickte auf dem Weg in die Welt. Die Ärzte konnten ihn retten, holten ihn ins Leben, gebaren ihn. Nach 3 Stunden hörte sein Herz wieder auf zu schlagen. Diesmal holten die Ärzte ihn zurück ins Leben. Jakobs Gehirn hatte bei der Geburt viel gelitten und blieb geschädigt. Heute ist Jakob 5 Jahre alt. Er sitzt im Rollstuhl. Den Kopf stets im Nacken, sitzt er da, in dieses Gerät gefesselt, was ihn davon abhält sich frei zu bewegen. Er könnte sich nicht bewegen. Seine Beine sind dünn wie die Heizungsrohre, die an der Wand neben seinem Bettchen entlanglaufen. Musik, Stimmen und Tiere machen ihm Angst.
Er atmet. Er schreit. Er weint.
Er wird gefüttert. Kauen kann er nicht und selbst das Schlucken des pürierten Hühnerfleisches, das ich vom Knochen apgepult, und im Mixer zerkleinert habe, macht ihm Probleme. Langsam bewegt sich der Kehlkopf auf und ab. Verhindert so, dass Jakob verhungert. Die Beine sind fest verkrampft, unter einer Decke werden sie vor den Augen um ihn versteckt. Ab und zu zuckt er und man glaubt, seine leeren, blinden Augen würden einen ansehen, man hat das Gefühl, dass er etwas sagen möchte, sich mitteilen möchte, fragen möchte:
„Was ist das Leben"
Jakob liegt vor mir auf der Pritsche. Sanft und vorsichtig gleite ich mit dem Waschlappen über seinen kleinen Körper, versuche ihm ein wenig Geborgenheit mit meinen Händen zu schenken. Er liegt still und verkrampft vor mir.
Ich lege ihn in sein Bettchen drehe die Heizung auf, decke ihn zu und flüstere ihm ins Ohr: „Nimm etwas von mir, nimm etwas von meinem Leben, ich möchte dir etwas von meinem Leben geben"
Ich möchte ihm etwas von meinem Leben abgeben.
Ich lösche das Licht und schließe die Tür, höre ihn leise in den Abend hinein atmen.
Ich gehe zurück in die Küche.
Amina ist kaum 5 Jahre alt, gerade erst hatte sie Geburtstag. Ich kenne Amina, seit sie hier ist, seit ihre Mutter damals mit ihr und ihrer kleinen Schwester im Sekretariat stand und so etwas wie „Strastvuiche" sagte.
Ich kann kein russisch. Auch Amina kann kein russisch. Amina kann Brocken. Ein wildes WirrWarr aus deutschen und russischen Worten, jenen Worten, die sie zuhause und hier täglich hört. Sie ist genügsam. Verpackung ist ihr liebstes Spielzeug. Die Papprolle, die ich ihr an ihrem ersten Tag gegeben habe, hab sie noch immer, auch wenn sie heute nichts mehr weiter als unförmiges Altpapier ist.
„Hör auf Amina", höre ich sie schreien, als ich die Küche wieder betrete. Sie sitzt am Tisch und isst, den Kopf auf eine Hand gestützt, ihr Brot. Amina ist blind geboren und ihre Augen liegen weit eingefallen, viel zu klein, in ihren Höhlen. Amina trinkt still aus ihrer Tasse, schreit dann wieder einen Brocken. Russisch. Ich kann kein russisch. Ich nehme sie an der Hand und singe leise vor mich als wir ins Bad gehen. „I sit and watch the children play", Amina ist still geworden. Ihre Windeln liegen im Abfalleimer und ich wasche auch sie sanft und behutsam. „My riches can't buy everything" Und als ich den letzten Vers singe, umschlingt Amina meinen Hals und flüstert mir etwas ins mein Ohr. Ich verstehe es nicht. Ich kann kein russisch. Und doch hört es sich wie „Was ist das Leben?" an. Verständig nickend drehe ich meinen Kopf und flüstere in ihr kleines Ohr: „Nimm etwas von mir, nimm etwas von meinem Leben, ich möchte dir etwas von meinem Leben geben."
Ich möchte ihr etwas von meinem Leben abgeben.
Amina hat mich gekratzt und während ich mir die Spuren im Nacken reibe, gehe ich mit ihr in ihr Zimmer. Ich lege sie in ihr Bett und lege die Decke mit Balu dem Bären auf sie. Sie kuschelt sich ein und schließt ihre kleinen Augen. „As tears go by" singe ich leise, ganz sacht, als ich das Licht ausschalte und die Tür schließe. Ein paar mal höre ich Amina noch rufen, aber ich kann kein russisch.
Ich gehe zurück in die Küche.
Dietmar sitzt noch immer am Tisch und hat die leeren Trinkpäcken die auf dem Tisch standen mittlerweile alle in kleine Schnipsel zerrissen. Dietmar ist genauso alt wie ich. Er ist groß, trägt eine Brille und hat immer ein Grinsen auf dem Gesicht. Dietmar kann nicht sprechen. Stattdessen zwitschert er vor sich hin. Seine ganze Erscheinung, obwohl groß und unbeholfen, gleicht der eines Tänzers. Jeder Schritt ist wie ein Tanz und gerne dreht er sich, spürt den Wind in seinem Gesicht, die Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster. Als ich ihm sage, dass er abräumen soll, freut er sich, klatscht in die Hände, steht auf und tänzelt durch den Raum. Die Dinge, die er täglich tut kann er. Sie sind ihm regelrecht Bedürfnis. Und doch kann er sich selbst nicht waschen. Ich gehe also wieder hinüber ins Bad und rufe ihn. Er kennt den Ablauf und stellt sich unter die Dusche. Während er sich unter der Dusche dreht und Melodien zwitschert, seife ich ihn ein und dusche ihn ab.
Als ich ihn abtrockne glaube ich ihn leise singen zu hören, „Was ist das Leben?". Ich antworte ihm: „Nimm etwas von mir, nimm etwas von meinem Leben, ich möchte dir etwas von meinem Leben geben.'
Ich möchte ihm etwas von meinem Leben abgeben".
Dietmar zieht sich sein Schlafzeug an und umarmt mich bevor nun auch er ins Bett geht um zu schlafen.
Nadine lebt bei Pflegeeltern, weil ihre leiblichen Eltern im Gefängnis sind. Als Nadine nur 3 Jahre alt war, schlugen ihre Eltern sie so lange mit dem Kopf gegen eine Wand, bis er brach. Die Ärzte konnten sie wieder ins Leben holen, doch das normale Mädchen war nicht mehr sie selbst. Sie konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr essen, nicht mehr laufen. Wie Simon sitzt sie im Rollstuhl und blickt um sich. Ich weiss nicht, ob sie mich erkennt, wenn ich vor ihr stehe, ob es einen Unterschied für sie macht, wer da steht, aber sie sieht sich immer um, sieht die Sonnenstrahlen im Herbst, wie sie durch die Blätter scheinen, sieht den kobaltblauen Himmel, der über ihr schwebt. Ich füttere sie und wische ihr den Mund ab, gebe ihr zu trinken und halte ihr ein Tuch unter.
Nadine ist 7 Jahre alt.
Die ganze Zeit frage ich mich, wie Eltern ihren Kindern so etwas antun können. Nadine könnte heute in einem Bett schlafen, und von ihrem nächsten Schultag träumen. Und morgen würde sie dann mit ihrem Hund spatzieren gehen, wenn sie aus der Schule käme. Aber sie sitzt vor mir in einem Rollstuhl und muss sich von mir füttern lassen. Aber ich mache es gerne. Es ist das mindeste was ich tun kann und noch dazu meine Aufgabe.
Ich muss spucken, als Nadine beim Schmatzen der Speichel aus dem Mund läuft. Sie hat Hunger. Als ich vom Klo wiederkomme sitzt sie noch immer und wartet.
Selbst wenn sie wollte, könnte sie nichts ändern. Ich frage mich, wie sich das Kind in ihrem Käfig wohl fühlt, wenn es weiss, wo es ist.
Ich löse die Bremsen ihres Rollstuhls, fahre mit ihr ins Bad. Sie freut sich und lacht, weil ich ein wenig Fahrt aufnehme. Ich hebe sie aus ihrem Rollstuhl, lege sie auf die Pritsche und schnalle sie dort fest. Nadine kann nicht laufen, aber sie braucht immer Bewegung. Nadine zu waschen ist nicht leicht. Nadine ist erst 7, aber sie braucht Binden, sie hat starken Schambewuchs und sie hat Brüste. Sie tut mir leid. Ich muss mich wieder übergeben. Als ich sie dann weiter wasche, passiert, was ich verhindern wollte. Sie blickt mir mitten in die Augen.
„Was ist das Leben?", fragen mich 2 blaue Augen.
„Nimm etwas von mir, nimm etwas von meinem Leben, ich möchte dir etwas von meinem Leben geben", antworte ich ihr.
Ich möchte ihr etwas von meinem Leben geben.
Sie hat neue Windeln an.Ich schnalle sie los und ziehe ihr Schlafzeug an, setze sie zurück in den Rollstuhl und fahre sie an ihr Bettchen. Vorsichtig lege ich sie in ihr Bett, schnalle sie fest und decke sie zu. Nadine schläft mit Licht. Ich gebe ihr eine Kuss auf die Stirn und gehe hinaus, ziehe die Tür hinter mir zu.
Ich wasche ab und schließe die Tür zur Küche. Ein letztes mal gehe ich an alle Zimmertüren und horche. Sie schlafen. Ich ziehe meine Regenjacke an und gehe hinaus. Die Tür verriegele ich hinter mir, die Nachtwache wird sie später wieder aufschließen.
Vor der Tür zünde ich eine Zigarette an. Kaum, dass ich es hätte rechtzeitig merken können, sitze ich im regennassen Kies auf dem Hof und weiss nicht mehr, ob es der Regen ist, der mir von der Nase rinnt, oder ob ich weine. Die Zigarette ist im regennassen Dreck wieder ausgegangen und ich lasse sie liegen, als ich wieder aufstehe und in meine Wohnung gehe. Es ist niemand da, also sitze ich wortlos am Tisch und esse eine kalte Bockwurst. Ich putze mir die Zähne, dusche mich und ziehe meinen Pyjama an. Dann lege ich mich ins Bett. Und schließe meine Augen.
Bald schon bin ich eingeschlafen und träume von Kinderlachen, von sonnigen Tagen am Strand, der Sand knirschte zwischen unseren Zehen, träume von schattigen Wäldchen, in denen das Licht der Sonne so wunderschön zwischen den Blättern hindurch auf den Boden fällt. Ich träume vom Roten Laub und wie wir uns darin wälzten, wie wir doch nur ein wenig später Schlitten fuhren und uns mit Schneebällen bewarfen und wie wir Blumen für unsere Mütter pflückten. Ich träume davon, wie ich das erste mal verliebt war und von meinem ersten Kuss, träume, wie ich einen Freund zu Grabe getragen habe und wie bitterlich ich weinen musste, träume vom Lachen meiner Nichte, als sie ein Jahr alt wurde, träume wie ich die Spitzhacke in den harten Beton habe krachen lassen und wie mir die Arme weh getan haben. Ich träume, wie ich in der Küche abwasche, eine kalte Bockwurst esse, mir die Zähne putze, wie ich mich dusche und mir meinen Pyjama anziehe, träume, wie ich mich endlich ins Bett lege und die Augen schließe.
Ich habe ihnen all mein Leben gegeben.
Ursprüngliche Veröffentlichung: 28.2.2007
Ursprüngliche Veröffentlichung: 28.2.2007
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