Für Stefanie
'Können wir trotzdem Freunde bleiben?' fragte er sie leise und verzweifelt
'Klar, man kann immer befreundet bleiben. Die Frage ist nur, was du draus machst, das liegt jetzt bei dir.' antwortete sie ihm kaum waren ihre Worte verklungen, schrie er, jetzt lauter und sicherer seine Antwort in die Muschel des Hörers,
'Was soll das denn jetzt heißen? Du willst mir doch wohl nicht den schwarzen Peter unterjubeln. Das liegt ja wohl eher an uns beiden und nicht nur an mir, oder?'
Abwesend und resigniert beendete sie das Gespräch mit den Worten: 'Mag's liegen an wem es will, dafür habe ich keinen Geist mehr. ich brauche jetzt Ruhe. Ich melde mich.'
Es klickte in der Leitung und sie war weg, die Verbindung gekappt. Sie bekam nicht von seiner Wut über dieses Gespräch mit und sie war sicherlich auch froh darüber, nicht zu wissen was in seinem Kopf vorging. Er hätte es umgekehrt zu gern gewusst. Kurze Zeit stand er noch vor dem Telefon an der Wand, sah es an und nach und nach verging die Wut und die Eifersucht. All der Schmerz verschwand nach und nach. Und dann war es ihm scheinbar egal. er war gleichgültig. Es war ihm egal. innerlich schloss er das Buch in dem sie steckte und vernichtete es oder verschloss es zumindest so fest, dass er glaubte, es nie wieder öffnen zu können, selbst wenn er wollte.
Er nahm den schwarzen ledernen Mantel vom Haken und im Überstreifen schaltete er das Licht aus, schloss die Tür und verriegelte sie.
'Zeit zu feiern, wollen wir doch mal sehen, wen wir noch aus den betten klingeln können', dachte er während der Weg ihn zielstrebig hinzugehen ließ. Strebend zum Haus eines Freundes.
Doch er kam nicht bei ihm an. Irgendwo auf dem Weg setzte er sich und dachte nach. Viele wirre Gedanken waren da, derer es zu ordnen Stunden bedurft hätte. Doch er schlief ein. Die Novembernacht war kalt und so feucht, dass die Nässe bei jedem Atemzug in Mund und Glieder fuhr. Doch er bemerkte das nicht und selbst wenn er es bemerkt hätte, es hätte ihn wohl nicht gestört. Er wusste nicht, warum er sich gesetzt und später gelegt hatte. Er wusste nicht, warum er nicht einfach wieder aufgestanden war und seinen Weg fortgesetzt hatte. Er schlief einfach ein, ohne es zu bemerken.
Da war das warme Licht des herbstes, sanft durch die matt und doch so kraftvoll gefärbten Blätter der Bäume fallend. Der blaue Himmel hing hoch über allem, alles überblickend und der Wind, ein letztes mal warm wehend, trug die Erinnerungen fort, die es ohnehin nicht wert waren vergessen zu werden. Neue Erinnerungen traten an die Stelle der verwehten und ersetzten sie und die Blätter wehten unaufhörlich dem Boden entgegen um den letzten Lebensatem der Erde entgegenzuhauchen. Golden lagen die Kornfelder hinter dem Waldesrand als hätten sie nie das blasse Grau des Regens gesehen. Die alten Gräber längst verfaulter Helden lagen vergessen zwischen Buchen und Erlen, so stark überwuchert, dass sie langsam eins zu werden schienen mit dem Waldboden.
Da waren Pärchen, sich sanft gegenseitig wiegend. Und da war auch er, teil eines dieser Pärchen, sanft ein Mädchen im Arm wiegend.
Er wachte auf als er endlich bemerkte, dass er vom Schnee durchnässt war.
'Sieht ganz danach aus, als wären diese letzten schönen Tage endgültig passé.', sagte er zu sich selbst als er sich auf der Bank aufrichtete. Den Kopf reckte er dem grauen Himmel, der unaufhörlich dicke Schneeflocken herunterrieseln ließ entgegen. Er dachte kurz nach, ob er vielleicht den Weg fortsetzen sollte, den er am Abend zuvor begonnen hatte, zog es dann aber doch vor, das feuchte Leder gegen trockenes Leinen zu tauschen. Er machte sich also auf den Weg.
Der Schnee blieb liegen. Die Abgase der Autos und die Motorenwärme machten den Teppich weißer Flocken jedoch schnell zu braunschwarzem stinkenden Matsch. Er mochte das Geräusch der Autos nicht hören, als er die nassen Hüllen abgelegt und sich neu bekleidet hatte. Er beschloss sich in das Zimmer zurückzuziehen, das einst sein Kinderzimmer gewesen war. Er hatte es, so gut es ging in dem zustand gelassen, in dem es war, als er fortgegangen war. Dieses Zimmer spendierte ihm die Ruhe und Gelassenheit, die Erinnerungen an lange vergangene, frohe Kindertage mit sich bringen. Freilich waren seine Kindertage nicht so schön wie dieser Raum ihm vermitteln wollte gewesen. Oft hatten seine Mutter und Vater sich gestritten, hatten ihn zwischen ihre Fronten geschickt, ihn für ihre Sache missbraucht. Sprich, ihn kaputt gemacht. Umso mehr gefiel es ihm aber, dass es ihm durch eben diese Eltern ermöglicht worden war, an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren. Und eben diese eine Sache ließ ihn dankbar sein. Langsam ließ er sich also in einen tiefen Korbsessel sinken und las in einem Buch, was er vor langer Zeit einmal gelesen hatte. Schnell aber überlas er die Buchstaben, Wörter und Sätze, denn etwas ganz anderes beschäftigte ihn. Es war dasselbe, was ihn schon in seinem Traum beschäftigt hatte, dasselbe, was ihm schon seit einigen Wochen das Denken verdunkelte. Es war dieser immer wiederkehrende Wunsch mit ihr zusammen zu sein. Eigentlich wollte er diese Gefühle verdrängen und vergessen. Aber wie sollte er vergessen, wenn er ständig daran erinnert wurde? Er beschloss sich über sein Gewissen hinwegzusetzen, sie anzurufen und es ein für alle mal aus der Welt zu schaffen. Er wollte einfach nicht mehr jede Nacht wegen ihr aus wüsten Träumen erwachen, weil er wieder von ihr geträumt hatte. Wollte nicht mehr stundenlang ziellos durch die Stadt laufen oder zuhause in verdunkelten Räumen sitzen und über ihre gemeinsamen Ziele nachdenken. Er wusste ganz genau, dass dieser Anruf wohl nicht viel ändern würde, aber es war ein erster Schritt. Also nahm er den Hörer und wählte ihre Nummer, die er noch immer nicht hatte vergessen können.
Eine Männerstimme.
Verstört verlangte er nach ihr.
'Wer war das?'.
'Das war mein neuer Freund.', lautete ihre kühle Antwort.
Er wurde aus einem unbestimmten Grund sehr wütend.
'Schön, dass du mir das vorher gesagt hast, vie Spaß dann!' Verbost warf er den Hörer quer durch den Raum, dass die Schnur aus der Buchse am Gerät riss und der Hörer mit lautem Krach an eine Wand und schließlich zu Boden fiel. Sie hatte es ihm gesagt. 'Ich will es mit ihm versuchen. und nicht mit dir!', hatte sie gesagt und doch hatte er sich nicht damit abfinden wollen, es nicht glauben wollen. Und nun war es bittere Gewissheit. Auf einmal machte alles, was er bisher getan hatte keinen Sinn mehr. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, dass es zu ende gegangen war und dass er gezweifelt hatte und wie es dann letzten Endes auch zu Ende gegangen war. Es waren Selbstvorwürfe, die sein Gewissen, sein innerstes selbst zerfetzten. Er hatte gezweifelt, hatte sie verlassen, sich ein neues Mädchen gesucht. Das zwei Mal und sie hatte ihm nicht mehr verzeihen können, als er sich darüber klar geworden war, dass er nur sie liebte und sein Leben mit ihr verbringen wollte. Und ihr stand er nun. Schwer atmend, zähneknirschend, den Hörer auf dem Boden betrachtend. alles wurde in Schutt und Asche gelegt, was ihm einst Freundschaft, Vertrauen und vor allem Liebe gewesen war. Und all seine Reue schien ihren Wert verloren zu haben. er hatte gebüßt und es hatte nichts genutzt. Er war sich seiner Sache sicher und sie war doch vergebens. Er liebte und würde nicht mehr geliebt werden. Er hob den Hörer auf und versenkte die Strippe wieder im Gerät, rüttelte ein wenig daran, es klickte und das Telefon funktionierte wieder. Es war ihm völlig egal, ob er fühlte oder nicht, was er fühlte oder warum. Sein Blick war so leer, wie es der Blick in sich selbst gewesen wäre. Und doch machte es ihn wütend. und so riss er den Mantel, der noch immer nass war vom Haken und warf die Tür hinter sich dermaßen ins Schloss, dass sich die Tür verzog, was er aber erst später bemerken sollte.
Die Augen düster gesenkt, drängte er sich nun durch die Straßen, die am Morgen noch so leer gewesen waren. Vorbei an Männern, Kindern, Frauen, Mädchen. Es kam ihm vor, als wollten sie ihm den Weg versperren und so entschloss er sich in den Wald zu gehen, in der Hoffnung noch einmal dieses beruhigende Licht, dass alles so warm erscheinen lässt und Geborgenheit spendet, zu spüren. Er hoffte dort die Ruhe zu finden, die er nun brauchte. Er wollte nicht an Wut, Verzweiflung, Eifersucht und einem gebrochenen Herzen kaputt gehen. Doch angekommen im Wald, fand er nicht die bunten Blätter auf die er gehofft hatte und fand nicht das warme Sonnenlicht. Der Himmel war grau, ließ keinen einzigen Sonnenstrahl zu den Baumwipfeln oder dem Erdboden durchdringen. Die Blätter, lang schon herabgefallen und vom weißen Schnee bedeckt, lagen braun und erstorben, hier und da aus dem Schnee hervorlugend vor ihm und manchmal knackte ein Ast unter seinen Schritten. Trostlos schien es nun hier und kein Ton war zu hören, kein Vogel sang, wie noch vor kurzer Zeit. Das Leben, was ihn einst staunen ließ, schien den Wald verlassen zu haben. Es fröstelte ihn und so ging er nun schneller durch den Wald, in der Hoffnung zu finden, was er suchte, wenngleich er sich nicht sicher war, was das war. Nach langem Marsch, es begann bereits zu dämmern, gelangte er an den Waldrand, der in das Gelände des Krankenhauses überging. Er fühlte sich krank. Seine Füße waren nass und ebenso Brust und Rücken.
'In der Nähe des Krankenhause sist es kein Wunder sich krank zu fühlen, wo doch Krankheit, Koma Tod und Vergängnis hier so nah beieinander liegen und allgegenwärtig sind.' dachte er und erinnerte sich, wie er am Bett seines Großvaters gesessen hatte und ihm die Hand gehalten hatte, bis sie kalt und starr geworden war. Viele Tränen hatte er die ganze Nacht über vergossen. Selbst hatte er hier viele Nächte verbringen müssen, war selbst Teil dieser Allgegenwart.
Er mochte nicht länger hier bleiben und so beeilte er sich weg zu kommen.
Er kam wieder nach hause und zog den triefenden Mantel aus. Der Ofen war aus und er hatte keine Kohlen mehr. Es war kalt. Sein Hemd, seine Hose, die Strümpfe, alles war nass. Doch es störte ihn nicht. Er blickte kurz zum Telefon.
'3 verpasste Anrufe / 3 ungehörte Nachrichten' war dort in Leuchtschrift zu lesen. Er hörte sie an. Sein Vater hatte angerufen und gefragt, ob man an Weihnachten mit ihm rechnen könne.
'Das weiß ich ja selber nicht mal, Papa.', sagte er vor sich hin.
Die anderen beiden Nachrichten waren von ihr gewesen, er löschte sie deswegen nachdem er ihre Stimme erkannt hatte, ohne sie anzuhören.
'Hey, ich ma..', 'Nachricht gelöscht'.
Letztendlich wollte er nicht mehr, dass es ihn kümmerte. Er ging die kurze Treppe hinab über den Flur ins Schlafzimmer, schaltete das Licht ein und wieder aus und legte sich hin. es war nun auch egal, das die Kälte der nassen Kleider ihm weiter in die Glieder fuhr und er ließ sie an.....
Es dauerte lange, bis er eingeschlafen war und sein Schlaf war unruhig.
Er sah Gesichter. Die seiner Eltern, die seiner Freunde, sah die Gesichter vieler Leute, die er einmal gekannt hatte. Sah ihr Gesicht und sah, wie sie ihn küsste und mit einem mal war es nicht mehr er den sie küsste, sondern ihr euer Freund mit seinen rot gefärbten Haaren und seinem blassen, schmalen Gesicht, in das die kurzsichtigen Augen unproportional zum Rest des Gesichtes eingebettet waren. Er sah, wie er ihn auslachte mit seinen langen, gelben Zähnen und sah sich selbst weinen und seine Dummheit verfluchen.
Tief in der Nacht erwachte er. Seine Glieder waren kalt und er fror. Mit müden Augen richtete er sich auf, stand auf und verließ das Haus.
'Was mache ich hier?'
'Warum gehe ich?'
'Meine Füße tun weh und es schmerzt in der Brust, wenn ich atme.'
'Was ist los?'
'Alles ist so trüb.'
'Ist es neblig?'
'Der Wind ist kalt und tut im Gesicht weh, so kalt ist der Wind.'
'Ich fühle mich so matt.'
'Wohin gehe ich?'
'Meine Füße werden mich schon tragen.'
'Irgendwohin'
'Wohin ist egal'
'Ich will an etwas anderes denken.'
'Ich will sie da nicht mehr haben.'
'Soll sie gehen wohin sie will und mit wem sie will.'
'Nein, ich belüge mich selbst. mit mir soll sie gehen. ich liebe doch nur sie.'
'Und doch ist es besser so.'
'Es sollte mir egal sein.'
'So egal.'
'Leben, was ist das eigentlich?'
'Ein großes Streben nach einem fernen Ziel am Horizont?'
'Was ist dann mein Ziel?'
'Sie war es.'
....'Und ich darf mein Ziel nicht erreichen.'
'Was ist dann mein Ziel?'
'Habe ich überhaupt noch eins?'
'Oder ist das Leben doch nur ein ereignisreiches Vegetieren?'
'Das würde so einiges erklären.'
'Aber warum musste ich zweifeln?'
'Warum musste ich sie verlassen?'
'Es war, weil wir uns nicht mehr verstanden haben und Streit wirkt nun mal wie Gift aif eine Beziehung.'
'Haben wir uns denn wirklich so oft gestritten?'
'Habe ich das in meinem Zweifelwahn nicht alles inszeniert?'
'Habe ich nicht alles daran gesetzt?'
'So kam es doch, dass wir uns getrennt haben.'
'Ich bin selbst schuld.'
'Was rege ich mich also eigentlich auf?'
'Bin ich doch selbst schuld.'
'Es war doch besser so.'
'Es hätte doch sowieso nichts mehr gebracht.'
'Wie lange brauchte ich, mir das einzureden, bis ich es selbst geglaubt habe?'
'Wie oft habe ich mich in meinem Wahn nach der Trennung gesehnt?'
'Jetzt habe ich sie.'
'Und glücklich bin ich nicht'
'Ich bin unglücklich, weil ich jetzt sicher bin.'
'Weil ich nicht mehr zweifle.'
'Meine Liebe ist stark.'
'Und doch ist sie nun unnütz.'
'Ich muss damit aufhören.'
'Ich muss einfach damit aufhören.'
Es war Tag geworden und wieder Nacht. Die Lichter der Lampen im Stadtpark leuchteten in die Nacht. Er wusste nicht, wie er hierher gekommen war. Er blickte hinüber in die Rehgehege und sah den Tieren zu. Es war kalt und die Nässe in Hemd und Hose war an einigen Stellen schon gefroren. Er spürte seine Finger nicht und er hustete viel, obwohl es ihm bei jedem Schub die Brust zu zerreißen schien. Langsam verschwanden die Tiere vor seinen Augen und ein leichter Nebel legte sich auf seine Augen. Langsam ermattete das Licht der Laternen und ging schließlich ganz in Dunkelheit über.
Spaziergänger fanden ihn am nächsten morgen und riefen den Notarzt. Der konnte aber nur noch seinen Tod feststellen. Als Todesursache wurde später ein Zusammenspiel von Erschöpfung, Mangelerscheinungen, einer Lungenentzündung und Erfrierungen angegeben.
Man hörte eine Frau sagen:.... 'Was muss bloß mit dem armen Kerl los gewesen sein, nachts bei dem Wetter ohne Jacke und ohne Schuhe im Park rumzulaufen?'
Die gefrorenen Tränen, die erst viel später auftauen und ihren Weg seine Wangen hinab beenden sollten bemerkte niemand.
Die zeit verstrich und es war der 24. Dezember, als er im Beisein seiner Eltern im Familiengrab neben seinem Großvater beigesetzt wurde.
Sein Vater weinte. Er hatte noch nie wegen seines Sohnes geweint.
Er war also Weihnachten nach hause gekommen, wie sein Vater es wollte.
Er weinte.
Sein Vater weinte an Weihnachten.
Um ihn.
Als seine Mutter nach Tagen die Anrufe auf der Anrufbeantworter beantwortete hörte das Mädchen nicht mehr, wie seine Mutter sich unter Tränen von ihr verabschiedete. Der Hörer war ihr längst aus der Hand geglitten. Zumindest hätte er es sich so gewünscht. Seine Mutter wusste nicht, was passiert war, als die Verbindung auf einmal unterbrach, aber das war es, was sie sich vorstellte.
Und der Wind wehte. Er wehte über sein Grab und trug die Erinnerungen an ihn hinfort. Und so weht er, trägt die Erinnerungen an vergangene Tage hinfort und weht den Menschen eine neue, sich ständig verändernde Welt, voll von Dingen, die erinnert werden wollen entgegen und was einmal war und nicht mehr ist geht verloren im Wind der Erinnerung, der immer weht und auch das morgen mit sich nehmen wird.
Ursprüngliche Veröffentlichung: 23.7.2007
Ursprüngliche Veröffentlichung: 23.7.2007
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